Die Kriegsopfer haben dem Friedensvertrag zugestimmt

03.10.2016 | Regula Fahrländer Am 2. Oktober haben 50,2% des kolumbianischen Stimmvolkes das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Farc abgelehnt. Die Art und Weise, wie das Abkommen die Farc-AnhängerInnen bestraft und ins politische Geschehen eingebunden hätte, war zum Stolperstein geworden. Aber gerade jene KolumbianerInnen, welche am meisten vom Krieg betroffen sind, hätten das Abkommen akzeptiert. Der […]

03.10.2016 | Regula Fahrländer
Am 2. Oktober haben 50,2% des kolumbianischen Stimmvolkes das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Farc abgelehnt. Die Art und Weise, wie das Abkommen die Farc-AnhängerInnen bestraft und ins politische Geschehen eingebunden hätte, war zum Stolperstein geworden. Aber gerade jene KolumbianerInnen, welche am meisten vom Krieg betroffen sind, hätten das Abkommen akzeptiert.

Der Sieg des Nein-Lagers war knapp: Mit 60‘000 Stimmen Vorsprung und 50,2% wurde die Volksbefragung vom 2. Oktober zum Friedensvertrag entschieden. Rund 6‘420‘000 KolumbianerInnen legten ein Nein in die Urnen und 6‘360‘000 befürworteten das Abkommen, welches während vier Jahren ausgehandelt worden war. Auffällig ist die hohe Wahlenthaltung. Nur 37% der insgesamt 35 Millionen Wahlberechtigten, gerade einmal 13 Millionen BewohnerInnen, haben sich an der Volksbefragung beteiligt. Das bedeutet auch, dass 22 Millionen KolumbianerInnen den Urnen fernblieben. Bei einem derart fundamentalen Entscheid über die Zukunft des Landes ist diese tiefe Wahlbeteiligung auffallend. Zum einen dürfte sie mit der fehlenden Tradition der politischen Mitsprache zu erklären sein, zum anderen wiederspiegelt sie das Misstrauen vieler KolumbianerInnen in den Staat und ein mögliche Friedensvereinbarung. Jahrzehnte des Bürgerkrieges haben tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Daran konnte auch die Ja-Kampagne, getragen von allen sozialen Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und grösseren Parteien des Landes, nichts ändern.

Inhaltlich ist die Ablehnung des Friedensvertrages auf zwei Aspekte zurückzuführen: Die Sonderjustiz für den Frieden und die politische Beteiligung der Aufständischen. Gemäss dem verhandelten Abkommen wäre das simple Mitwirken in den Farc nicht strafbar, nur wer schwere Menschenrechtsverbrechen begangen hat, käme vor ein Sondergericht. Wer vor diesem geständig ist und Reue zeigt, muss bis zu acht Jahren Sozialdienst leisten, nur wer nicht kollaboriert, kommt bis zu zwanzig Jahre ins Gefängnis. Zudem hätte die Partei der Farc ab 2018 zehn Sitze im Kongress, je fünf pro Kammer, zugesprochen bekommen. Auf insgesamt 268 Kongressabgeordnete scheint die Anzahl nicht sehr bedeutend. Dass sie dennoch zum Stolperstein wurde, wiederspiegelt, wie überzeugt grosse Teile der kolumbianischen Bevölkerung der Meinung sind, die Regierung sei den Aufständischen zu weit entgegen gekommen. Die Jahrzehntelange (Staats-)Propaganda, in der die Farc als TerroristInnen und als Schuldige alles Bösen in Kolumbien dargestellt wurden, hat Wirkung gezeigt. Von den Verbrechen, welche von Paramilitärs und Staatsangestellten begangen wurden und laut Regierungsberichten jene der Farc überwiegen, ist wenig die Rede.

Das Ja der Kriegsopfer
Im Wahlresultat ist eine Tendenz ersichtlich: Je ruraler und abgelegener die Gegend, umso höher der Ja-Stimmen-Anteil. Interessanterweise bedeutet dies, dass die Bevölkerung dem Abkommen gerade dort zugestimmt hat, wo die meisten Direktbetroffenen vom Krieg zu Hause sind[1]. So haben etwa in Bojayá, wo im Mai 2002 bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Farc 79 Menschen umkamen, welche Schutz in einer Kirche gesucht hatten, 96% dem Friedensvertrag zugestimmt und nur 4% ein Nein in die Urne gelegt.

Wer in einer vom Krieg direkt betroffenen Region lebt, ist also eher bereit, den Farc Konzessionen einzugestehen und ihnen zu verzeihen. Gerade diese Frauen und Männer sind des Konfliktes müde und wollen keine weiteren Toten zu Grabe tragen. Ihnen ist die friedlichere Zukunft dringender als den StädterInnen, die den Konflikt in den letzten Jahren vorwiegend aus den Medien kennen. Ersichtlich werden dabei die Unterschiede und die hohe Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft. Die Propaganda des Nein-Lagers um Ex-Präsident Uribe verstärkte genau diese Polarisierung und machte sich diese schliesslich zu Nutzen. Er ist der grosse Sieger des Referendums. Keine Gelegenheit hatte er ausgelassen, den Hass weiter zu schüren – erfolgreich. Der Direktor vom Rechercheinstitut CERAC, Jorge Restrepo, meint dann auch: „Was gewann, ist der Hass, der Hass auf die Farc“.[2]

Viel Inszenierung bei der Unterzeichnung
Ein Woche zuvor, am 26. September, hatten Präsident Juan Manuel Santos und Farc-Kommandant Rodrigo Londoño alias Timoleón Jiménez den Friedensvertrag in Cartagena in Anwesenheit von 2500 geladenen Gästen, darunter der UNO-Generalsekretär Ban Ki-Boon, viele Staatschefs Lateinamerikas, OpfervertreterInnen und Abgesandte aus aller Welt, unterzeichnet. Die schrecklichen Nächte der Gewalt seien vorbei, kündigte der Präsident unter Bezug auf die Nationalhymne an. Die einstigen Farc-AnhängerInnen hiess er, plötzlich mit zivilem Namen, in der Demokratie willkommen. Die Waffen gegen Wählerstimmen einzutauschen, sei die mutigste Entscheidung, die eine subversive Streitkraft treffen könne.

Generell hielt Santos seine Rede ganz im Sinne der Propaganda für die Ja-Stimmen. Immer wieder kam er auf die Einigkeit zu sprechen, sei es mit Referenzen auf die Nationalhymne oder den Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez. Zudem erwies er, ganz strategisch, den SoldatInnen und PolizistInnen des Landes die Ehre und sprach ihnen seinen Dank aus. Die Farc ihrerseits entschuldigte sich für die begangenen Kriegstaten und beteuerte, sie wolle künftig ihre Ziele mit Worten und nicht länger mit Waffen verfolgen. Sie hatte sich vom 17. bis zum 23. September zur Zehnten – und eigentlich letzten – nationalen Konferenz in den Llanos de Yarí in San Vicente del Caguán im Caquetá getroffen. Dort hatten sie dem Abkommen einstimmig zugestimmt und sich als bewaffnete Gruppierung aufgelöst.

Grosse Unklarheiten für die Zukunft
Mit einem Ja an den Urnen wäre eine Anzahl von Herausforderungen auf Kolumbien zugekommen: Wie werden die Farc-Anhänger erfolgreich in die Gesellschaft integriert? Können sie gefahrlos am politischen Leben teilhaben? Was wird gegen die paramilitärischen Gruppierungen unternommen? Wie werden die Vertriebenen tatsächlich auf ihre Grundstücke zurückkehren können? Beginnen nun Verhandlungen mit der zweiten Guerilla ELN? Wer wird das Machtvakuum in den einstigen Farc-Gebieten füllen? Wie wird der Drogenhandel eingedämmt? Gelingt es den Kolumbianerinnen und Kolumbianern, eine integrative Gesellschaft mit demokratischen Prozessen aufzubauen?

Mit dem Nein-Ausgang des Plebiszits ist die zentrale Frage vorerst jene nach neuen Verhandlungen. Im Vorfeld hatte die Regierung wiederholt betont, ein besseres Abkommen auszuhandeln sei eine Utopie, das bestmögliche Resultat sei bereits erzielt worden. Für die Farc war die Möglichkeit, Gefängnisstrafen abzusitzen, stets ausgeschlossen. Dennoch betonte Londoño in seiner Ansprache nach der Bekanntgabe der Resultate, die Farc werde ihre politischen Ziele weiterhin mit Worten anstelle von Waffen verfolgen[3]. Beide Seiten haben also die Bereitschaft signalisiert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und sich um eine friedliche Lösung zu bemühen. Der Waffenstillstand bleibt bis auf weiteres in Kraft. Nachverhandlungen sind laut Verfassungsgericht möglich.

Menschenrechtsorganisationen, die sich schon lange für einen verhandelten Frieden, auch mit der zweiten Guerillaorganisation ELN, einsetzten, weisen konstant darauf hin, dass Frieden mehr als die Unterzeichnung eines Abkommens ist. Das Wahlresultat veranschaulicht genau das und zeigt, dass Frieden ein soziales Konstrukt ist, welches mit einer möglichst breiten sozialen Beteiligung gebildet werden muss. Die Distanz zwischen dem Verhandlungstisch auf Kuba und der kolumbianischen Realität war zu gross gewesen. Daran ist das Referendum gescheitert. Am Tag nach dem Urnengang rief Präsident Santos dann zu einem nationalen Dialog auf, auch mit dem Nein-Lager. Dieses zeigte sich plötzlich versöhnlicher und betonte, auch sie wollen Frieden, aber unter gewissen Konditionen. Um die bessere Einbindung dieser Stimmen wird die Regierung nun nicht mehr herum kommen. Vielleicht hilft gerade das, die Polarisierung in Kolumbien anzugehen und doch noch zu einem Friedensvertrag zu kommen. Allen voran die Kriegsopfer hätten es verdient.
[1] Semana, 2.10.16, Las víctimas votaron por el Sí, http://www.semana.com/nacion/articulo/plebiscito-por-la-paz-victimas-del-conflicto-votaron-por-el-si/496571

[2] El Espectador, 3.10.16, Colombia dijo “No” al acuerdo de paz con las Farc,http://www.elespectador.com/noticias/paz/colombia-dijo-no-al-acuerdo-de-paz-farc-articulo-658143

[3] Comunicado de las FARC-EP / Video/ “Las Farc mantienen su voluntad de paz”: ‘Timochenko’ http://www.resumenlatinoamericano.org/2016/10/02/colombia-comunicado-de-las-farc-ep-las-farc-mantienen-su-voluntad-de-paz-timochenko/

http://www.askonline.ch/themen/friedensfoerderung/friedensverhandlungen/die-kriegsopfer-haben-dem-friedensvertrag-zugestimmt/