Vorwort der Herausgeber*innen
Mitte Januar 2025 gingen traurige Bilder der Gewalteskalation in Catatumbo, im Nordosten Kolumbiens, um die Welt. Selbst in Deutschland, dessen Medien normalerweise nicht das südamerikanische Land fokussieren, wurde ausführlich über die Region berichtet. An der Grenze zu Venezuela gelegen, ist das Gebiet als Standort für Drogenproduktion und Drogenhandel bekannt. Im Januar kam es in Kämpfen um die Territorialkontrolle zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen FARC-Dissident*innen und der ELN-Guerilla – und die Zivilbevölkerung war mittendrin gefangen. Beide Konfliktparteien beschuldigten die Bevölkerung, Mitglieder der jeweils anderen Seite zu sein und begingen dabei schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Kämpfe und Übergriffe zwangen innerhalb weniger Tage zehntausende Menschen zur Flucht, mindestens 55 wurden ermordet, wie das Verteidigungsministerium angibt. Es handelt sich um die schlimmste humanitäre Krise und die größte Vertreibungskrise der jüngeren Geschichte Kolumbiens. Und das in einem Land, das sich ohnehin stetig auf den ersten Plätzen der Länder mit den meisten intern Vertriebenen weltweit befindet.
Obwohl sich die Dramatik der Vertreibung dort Anfang des Jahres besonders eindrücklich zeigte, ist Catatumbo kein Einzelfall in Kolumbien. Im ganzen Land werden Menschen nach wie vor Opfer von Vertreibungen. Andere leben eingesperrt in ihren Häusern oder Dörfern und haben nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass mit Gustavo Petro derzeit der erste linke Präsident der kolumbianischen Geschichte an der Macht ist. Er hatte versprochen, nicht nur das Friedensabkommen zwischen der FARC-Guerilla und dem kolumbianischen Staat von 2016 vollständig umzusetzen, sondern auch den „totalen Frieden“, die „Paz Total“, zu erreichen. Die „Paz Total“-Initiative ist der laufende Versuch der Petro-Regierung, landesweit Friedensgespräche mit allen bewaffneten Akteuren zu führen.
Der anfänglichen Hoffnung der Bevölkerung, endlich den lang ersehnten Frieden zu erreichen, wurde jedoch in letzter Zeit der Wind aus den Segeln genommen: Die Gespräche mit vielen der bewaffneten Gruppen stagnieren oder wurden, wie im Fall der ELN-Guerilla, infolge der Eskalation in Catatumbo, ganz ausgesetzt. In vielen Regionen des Landes nutzten die Gruppen die Verhandlungen, um sich neu zu formieren, und sind heute stärker als noch vor drei Jahren. Laut Kritiker*innen ließ die aktuelle Regierung durch den Fokus auf die neuen Friedensgespräche die Umsetzung des Abkommens mit der FARC aus den Augen – hinzu kommt eine Finanzierungslücke der Umsetzung.
Dabei trat Präsident Petro ein schweres Erbe an: Sein Vorgänger, der rechte Iván Duque, ein dezidierter Gegner des Friedensabkommens, schaffte es zwar nicht, „das verdammte Friedensabkommen” zu zerstören, wie es einer seiner Regierungsvertreter versprochen hatte. Dennoch setzte er die Umsetzung in seiner vierjährigen Amtszeit fast gänzlich aus.
Der Staat verpasste es, mit Sozialreformen und Infrastrukturprojekten in die ehemals von der FARC kontrollierten Gebiete vorzudringen, 472 ehemalige FARC-Kämpfer*innen wurden laut der NRO Indepaz seit Unterzeichnung des Abkommens bis Oktober 2025 ermordet und die meisten dieser Morde bleiben straflos. Auch heute geht die Umsetzung nur langsam voran.
Das entstandene Machtvakuum begünstigte eine Neukonfiguration des bewaffneten Konflikts. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes identifizierte 2024 acht verschiedene bewaffnete Konflikte im Land. Neben der ELN-Guerilla kämpfen auch paramilitärischen Strukturen wie das mächtige Drogenkartell Clan del Golfo, transnationale Netzwerke der organisierten Kriminalität, sowie FARC-Dissidenzen um Territorialkontrolle.
Auch außenpolitische Faktoren verschärfen diesen Konflikt: Seit einigen Jahren wirken transnational agierende kriminelle Gruppen wie der Tren de Aragua aus Venezuela oder das Sinaloa-Kartell und Jalisco Nueva Generación aus Mexiko in den Konflikt mit hinein. Die Aussetzung der Gelder der US-amerikanischen Entwicklungsagentur USAID nach der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hinterlässt eine substanzielle Lücke im kolumbianischen Finanzhaushalt für Projekte, die mit Frieden und Demokratisierung in Verbindung stehen. Auch die wirtschaftlichen Interessen des Globalen Nordens in der Region erschweren das Unterfangen des Friedens: Das Land ist rohstoffreich und die Nachfrage hat sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine noch weiter verstärkt. Die EU möchte sowohl vermehrt fossile Energieträger als auch Rohstoffe für die „Energiewende“ aus Kolumbien beziehen. 2025 wird so viel legal und illegal gewonnenes Gold exportiert wie noch nie – und auch Kokainexporte erreichen einen neuen Höchststand: Seit 2020 hat Europa die USA als den größten Importmarkt von Kokain überholt. All diese Faktoren führen zu einer Gewalteskalation und vielerorts zu einem Klima der Hoffnungslosigkeit. Die große Leidtragende ist nach wie vor die ländliche Bevölkerung.
Die Regionen, die vom Staat am stärksten vernachlässigt werden und aus denen die meisten Menschen fliehen müssen, sind häufig dieselben, in denen die wirtschaftlichen Interessen legaler und illegaler Akteure am stärksten sind. In Gebieten mit besonders vielen Rohstoffvorkommen, wie in der Amazonasregion, in Catatumbo oder im Chocó, sind bewaffnete Akteure ebenso präsent wie multinationale Unternehmen mit extraktivistischen Interessen. Das heißt, auch die EU und Deutschland als wichtigster Handelspartner tragen eine Mitverantwortung für Menschenrechtsverbrechen und Umweltzerstörung, die seit Jahrzehnten zur internen Vertreibung von Millionen Menschen im Land führen.
Welche Rolle spielen die kolumbianischen Behörden in dem andauernden Konflikt? Wie kann es sein, dass die Gewalt nach der Unterzeichnung eines historischen Friedensabkommens wieder so sehr eskaliert und der Staat es nach wie vor nicht vermag, seine Bevölkerung zu schützen? Welchen Einfluss haben die aktuellen Friedensverhandlungen im Rahmen der Paz Total darauf? Woher kommt die Unfähigkeit, einen nachhaltigen Frieden zu erreichen?
In dieser Studie untersuchen wir die ernüchternde Realität der Bevölkerung heute, fast neun Jahre nach dem Abkommen. Unser Fokus liegt auf der internen Vertreibung – dem Verbrechen, das im kolumbianischen Konflikt die meisten Opfer gefordert hat – und weiterhin fordert. Die Autorin Ginna Morelo war vor Ort und hat mit Betroffenen sowie mit Vertreter*innen staatlicher Institutionen und Nichtregierungsorganisationen gesprochen. Sie untersucht, warum es dem Staat bisher nicht gelungen ist, der internen Vertreibung im Land ein Ende zu setzen. Insbesondere untersucht sie, was das für die historisch vom jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt und der staatlichen Vernachlässigung betroffenen Regionen im Land bedeutet. Denn diese erwarteten nach dem Abkommen strukturelle Veränderungen, die ihnen Zugang zu Land und Rechten gewährleisten würden, sowie ein Ende der Gewalt und ein Leben in Frieden.



