Kolumbien-aktuell No. 615 | Juni 2021

Obwohl die Proteste in Kolumbien jetzt bereits 2 Monate andauern und kein Ende in Sicht ist, gibt es doch auch noch andere, teilweise sogar positive Nachrichten. Einerseits, und dies gleich in Verbindung mit den Protesten, schliessen sich immer mehr Menschen in solidarischen Gruppen zusammen, um für die Rechte der Zivilgesellschaft einzustehen, allen voran die Mütter der vordersten Front. Weiter bittet Santos um Entschuldigung und die Schweizer Firma Glencore kauft die Kohlemine Cerrejón. Ob letzteres eine positive Nachricht ist und für wen, wird sich zwar erst noch zeigen, aber immerhin besteht jetzt erstmal Klarheit darüber, dass es weitergeht mit der Kohleförderung in der Guajira.

Ask!

I. Artikel

Überraschende Wende im kolumbianischen Kohlegeschäft

Am 28. Juni 2021 überrascht Glencore mit einer Meldung, die viele Beobachter schon länger erwarteten: Glencore übernimmt von BHP und Anglo American deren Anteile an Cerrejón und wird zum alleinigen Besitzer der grössten Tagebau-Kohlemine in Lateinamerika. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass Glencore vor dem Schiedsgericht der Weltbank, gestützt auf das bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen der Schweiz und Kolumbien, gegen den kolumbianischen Staat klagt, weil der Abbau des Minenabschnitts La Puente gerichtlich blockiert ist.

(Von Stephan Suhner)

https://www.askonline.ch/allgemein/ueberraschende-wende-im-kolumbianischen-kohlegeschaeft

 Die Regulierung des sozialen Protestes per Dekret ist verfassungswidrig

Am 18. Juni hat der Innenminister Daniel Palacios per Twitter angekündigt, dass die Regierung das Dekret 003 von 2021 revidiert. Dieses soll zukünftig festlegen, dass Kundgebungen, die als Mittel die temporäre oder permanente Behinderung von Strassen, Verkehrsachsen oder Transportinfrastrukturen nutzen, keine Form friedlichen (und deshalb legalen) Protestes seien. Noch ist der konkrete Inhalt dieser Reform nicht bekannt, aber die Ankündigung des Innenministers zeigt, dass die Regierung beabsichtigt, das friedliche Demonstrieren einzuschränken. Konkret würde das heissen, dass das Blockieren von Strassen und Verkehrsachsen keine legitime Demonstrationsart ist und deshalb nicht mehr vom Verfassungsartikel 37 (Versammlungsfreiheitsartikel) geschützt wäre. Dies hätte zur Folge, dass diese Blockaden durch die Sicherheitskräfte mit Waffengewalt aufgelöst werden könnten. Ist dies aber verfassungs- und menschenrechtskonform? Die ask! hat einen Artikel von El Espectador  zusammengefasst.  

(Von Carla Ruta)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/die-regulierung-des-sozialen-protestes-per-dekret-ist-verfassungswidrig

Komplexe Flüchtlingssituation in Kolumbien

Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag der UNO, wobei auf der ganzen Welt in verschiedenen Aktionen auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht wird. Kolumbien ist speziell von Binnenflüchtlingen betroffen, wird aber auch seit einigen Jahren von Flüchtlingen aus Venezuela gefordert. Die ask! nimmt sich den Tag zum Anlass, über die komplexe Situation in Kolumbien zu informieren.

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/komplexe-fluechtlingssituation-in-kolumbien

II. Apropos

Mütter der ersten Reihe:

Zu den bereits bestehenden Gruppen der ‘Primera Línea’, meist Jugendliche, die die friedlich Protestierenden verteidigen, hat sich im Stadtteil Kennedy in Bogotá jetzt eine Gruppe von Mamas der ersten Reihe gesellt. Die Mütter haben sich bei den Mobilisierungen kennengelernt und dann begonnen, sich zusammen in Gruppen zu bewegen, da sie den Angriffen der Polizei besonders ausgesetzt sind. Sie begannen, sich umeinander zu kümmern, aufeinander aufzupassen und sich gegenseitig nach Hause zu begleiten. Ihr zentrales Element ist gleich wie bei den Jugendlichen der Schild, den sie mit gesammeltem Geld aus Pressspan anfertigen liessen und dann schwarz anmalten und mit weisser Farbe ‘Mamas 1 Linea’ darauf schrieben. Sie sind nur ein gutes Dutzend von den Hunderten Personen, die jeden Tag beim auf Portal des Widerstands umbenannten Treffpunkt zusammenkommen, um mit friedlichen Protesten und kulturellen Aktivitäten auf die horrende Situation im Land aufmerksam zu machen. In den Medien werden die Mütter der ersten Reihe als ‘neue Erfindung der Vandalen’ degradiert und auch der Polizeichef von Bogotá rechtfertigte die Nutzung von Tränengas und Blendgranaten gegen die Mütter damit, dass sie bloss von den Fadenziehern hinter den Protesten instrumentalisiert würden. Die Mütter selber stellen sich dem entschieden entgegen. Sie betonen, dass sie aus eigenen Stücken an den Protesten teilnehmen und fassen ihre Motivation folgendermassen zusammen: «Wir schliessen uns den Protesten an, weil wir genug haben von so viel staatlicher Repression, genug davon, dass sie unsere jungen Leute töten. Wir gehen für das Recht auf Gesundheit, auf Bildung, auf Arbeit auf die Straße. Wir werden immer ärmer und das Einzige, was die Regierung macht, ist das Volk anzugreifen, um die Interessen einiger Superreichen zu verteidigen. Wir gehen hinaus, damit all die Gewalt aufhört, damit unsere Kinder eines Tages ein Land haben werden, in dem Frieden herrscht. Wir gehen hinaus, um zu sagen, ‚Schluss damit‘. Wir gehen also raus auf die Straßen für das Recht auf Leben.»

https://amerika21.de/analyse/251196/kolumbien-die-mamas-der-ersten-reihe?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

Hartes Urteil des Völkertribunals TPP:

In einer virtuellen Verkündung durch VertreterInnen der 17-köpfigen Jury hat das Permanente Völkertribunal (Tribunal Permanente de los Pueblos, TPP) den kolumbianischen Staat für Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen wie auch «für den kontinuierlichen Genozid» verurteilt. Durch direkte oder indirekte Teilnahme des Staates hätten diese Verbrechen seit 1946 zu einer teilweisen Zerstörung von Gewerkschafts- und Bauernorganisationen, indigenen und Afrogemeinschaften, politischen Gruppierungen und Menschenrechtsorganisationen geführt. Doch nicht nur der kolumbianische Staat, sondern auch die USA (für ihre Rolle beim Paramilitarismus, bei der Politik des «internen Feindes» und der Unterdrückung der Opposition) und nationale und transnationale Unternehmen (Teilnahme an schweren Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibungen oder das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren) werden verurteilt. Zu den Unternehmen zählt unter anderem Nestlé in Verbindung mit dem Mord an Gewerkschaftsmitgliedern von SINALTRAINAL.

Das TPP wurde in Orientierung an das internationale Tribunal über Kriegsverbrechen der USA in Vietnam gegründet. Obwohl der Urteilsspruch keine juristischen Konsequenzen hat, ist es vielmehr ein moralischer Appell, die begangenen Verbrechen zu verurteilen.

https://www.tppcolombia.com/

https://amerika21.de/2021/06/251595/kolumbien-urteil-des-tpp-tribunal?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

 Duque’s Polizeireform:

Die Ankündigung einer Polizeireform hat starke Kritik erhalten. Laut den Kritikern handelt es sich um eine Farce, da es hauptsächlich um eine neue Farbe der Uniformen zu gehen scheint. Es gehe somit nur um das Bild der Polizei und nicht um eine grundlegende Reform, wie sie besonders seit den Menschenrechtsverletzungen während den Protesten immer wieder gefordert wird. Eine der Grundforderungen, der in der vorgelegten Reform nicht nachgegangen wird, wäre dass die Polizei nicht mehr Teil des Verteidigungsministeriums sein sollte, sondern von zivilen Autoritäten kontrolliert werden müsste. Duque schlägt stattdessen ein Menschenrechtsobservatorium innerhalb der Polizei vor, das von einer zivilen Person besetzt sein müsste. Solche Vorschläge haben schon bei früheren Reformen nicht funktioniert. Auch andere Veränderungen, die Duque vorschlägt, wurden schon bei früheren Reformen eingeführt, haben sich aber nie durchgesetzt. Somit scheinen sich die Veränderungen wirklich auf die Farbe der Uniform zu beschränken, was angesichts der Geschehnisse der letzten zwei Monate doch ein Hohn gegenüber der protestierenden Bevölkerung.

https://www.contagioradio.com/reforma-a-la-policia-es-cosmetica/

https://www.coljuristas.org/columnas_de_la_direccion/columna.php?id=325

 Santos’ Wahrheit:

Am 11. Juni hat der ehemalige Präsident und Verteidigungsminister Juan Manuel Santos vor der JEP ausgesagt. Der Friedensnobelpreisträger war Verteidigungsminister von 2006 bis 2009, während der Amtszeit von Alvaro Uribe, bekannt für die ‘falsos positivos’, also die aussergerichtlichen Hinrichtungen um mehr Erfolgszahlen im Krieg gegen die Guerilla zu präsentieren. Laut der JEP wurden zwischen 2002 und 2008 mindestens 6402 Zivilisten getötet und als feindliche GuerillakämpferInnen ausgegeben, um Quoten zu erfüllen und dafür Prämien zu bekommen. Santos sagte klar, dass diese ‘falsos positivos’ keine faulen Äpfel innerhalb des Militärs gewesen sein konnten, wie es das Militär selber behauptet. Er zweifle keine Sekunde daran, dass der Druck, möglichst viele Kriegsopfer zu präsentieren, daran Schuld war, dass es diese ‘falsos positivos’ überhaupt geben konnte. Er sagte aus, dass er zu Beginn nicht glauben wollte, dass die Gerüchte, die umgingen, stimmen konnten. Doch schon bald musste er anerkennen, dass tatsächlich Unschuldige als Guerilleros verkleidet und getötet wurden und laut seiner Aussage begann er dann auch sofort damit, Untersuchungen einzuleiten. Er sagte auch, dass Uribe zwar diese Doktrin eingeführt, ihn dann aber nie daran gehindert habe, gegen diese ‘falsos positivos’ vorzugehen. In seiner Aussage bittet Santos auch ganz ausdrücklich um Vergebung und entschuldigt sich bei allen Müttern, die ihre Kinder verloren haben.

https://www.eltiempo.com/justicia/jep-colombia/en-vivo-expresidente-santos-habla-hoy-ante-comision-de-la-verdad-595323

https://www.nzz.ch/international/kolumbiens-ex-praesident-santos-abbitte-fuer-toetung-von-zivilisten-ld.1630092

https://razonpublica.com/santos-dice-verdad-los-falsos-positivos-dijo-poco-dijo-mucho/

 

III. Tipps und Hinweise

 Crowdfunding für Videoprojekt

Das Dokumentarfilmprojekt «La Verdad no es una Prostituta» von Helen Gyr dreht sich um die Aufarbeitung sexueller Gewalt während dem Konflikt in Kolumbien und basiert auf ihrer Masterarbeit in Sozialanthropologie.

Das Mindestziel von 5’000 CHF ist zwar bereits erreicht, aber je mehr Spenden das Projekt erhält, desto besser!

https://www.kickstarter.com/projects/laverdad/la-verdad-no-es-una-prostituta

 IV. Lesenswerte Artikel

 

Redaktion: Lisa Alvarado