Kolumbien-aktuell No. 616 | August 2021

Die Menschenrechtssituation befindet sich zwar im Keller, aber viele Menschen zeigen auch in ihrem Alltag und mit erfinderischen Protestarten, dass wir nie aufgeben dürfen und immer Hoffnung besteht. Während in den grossen Städte die Proteste (durchaus mit Recht) die Aufmerksamkeit auf sich lenken, betrüben Nachrichten aus dem ländlichen Nariño, wo fast täglich Minderjährige rekrutiert werden – praktisch unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Und während sich hohe Politiker rund um die Regierung von einem Skandal zum nächsten schleppen, kämpfen Kokabauern und -bäuerinnen um ihr Überleben. Obwohl der Kokainhandel boomt, sind sie immer die Letzten im Umzug und bekommen sowohl die Strafen wie auch die Glyphosatbesprühungen direkt zu spüren. Und doch – aufgeben ist keine Option.

Redaktion: Lisa Alvarado- ASK

I. Artikel

Steter Tropfen oder heisser Stein?

Die Menschenrechtssituation in Kolumbien befindet sich in einem beunruhigenden Zustand. Seit Ende April die landesweiten Proteste wieder aufgenommen wurden, kommt es zeitenweise fast täglich zu Gewaltübergriffen seitens der staatlichen Sicherheitskräfte. Internationale Beobachtungsmissionen reisen nach Kolumbien, weisen die Regierung auf ihren menschenrechtswidrigen Umgang mit der Zivilbevölkerung hin und geben Empfehlungen ab, was verbessert werden sollte und wie. Die Reaktion der Regierung ist eine Verteidigungshaltung, die einem trotzenden Fünfjährigen alle Ehre machen würde. Der Hintergrund für diese Haltung stellen möglicherweise die nächstes Jahr anstehenden Wahlen dar und die Absicht, mit der ‘starken Hand’ einer ganz bestimmten Wählerschaft zu gefallen. 

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/steter-tropfen-oder-heisser-stein

Mit Tilapias auf dem Weg der Hoffnung

„Wir haben erkannt, dass es auch mit Koka auf den Feldern möglich ist, in Frieden zu leben“ (Natalia Currea, Friedensbeauftragte der Gemeinde Argelia). Dies ist die Geschichte eines Zusammenschlusses von Beamten und ehemaligen FARC-KämpferInnen, die mit einer Tilapiafischkultur eine Insel des Widerstands gegen den Krieg in einer der gefährlichsten Gemeinden Kolumbiens zu schaffen versuchen. Als Beispiel dafür, dass es neben all den traurigen und besorgniserregenden Nachrichten auch weiterhin Menschen gibt, die mit viel Kraft Hoffnung schaffen, haben wir diesen Artikel übersetzt.

(Von Nicole Bravo, übersetzt von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/frieden/mit-tilapias-auf-dem-weg-der-hoffnung

https://lasillavacia.com/historias/silla-nacional/a-punta-de-tilapias,-excombatientes-resisten-a-la-guerra-en-argelia/

Wenn Unschuldige den Krieg Anderer führen

Im Pazifikdepartement Nariño bieten bewaffnete Gruppen Minderjährigen im Alter von 15, 16 und 17 Jahren Führungspositionen an, um sie anzulocken. Diese neuen Anführer verkörpern laut einem Artikel der Zeitung El Espectador die schlimmsten Auswirkungen der Zwangsrekrutierung. Dieser Artikel ist eine Übersetzung des Artikels auf Spanisch.

(Von Kyle Jhonson et al, übersetzt von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/wenn-unschuldige-den-krieg-anderer-fuehren

II.  Apropos

 Haiti-Affäre:

Am 7. Juli wurde der Haitianische Präsident Jovenel Moïse in seiner Residenz in Port-au-Prince erschossen. Während den darauffolgenden Ermittlungen wurden mehrere kolumbianische Söldner festgenommen, die angeblich dazu angeheuert wurden, den Mord auszuführen. Anscheinend wurden sie von einer Sicherheitsfirma aus Miami rekrutiert. Der venezolanischer Chef (Tony Intriago) dieser Firma wurde, laut einem kolumbianischen Medienportal, 2019 an einem Konzert gegen die Regierung Maduro’s in Cúcuta zusammen mit Ivan Duque gesehen. Auch bei einer Veranstaltung seiner Präsidentschaftswahlkampagne haben sich die beiden in Miami getroffen. Dies bestätigte Duque’s Pressesprecher. La Nueva Prensa hält noch weitere Verbindungen fest, wonach Intriago und Duque vor den US-Wahlen in Miami und Washington eine politische Kampagne für Donald Trump durchgeführt hätten, worin Biden und Harris als Kommunisten beschimpft wurden.

Die Organisation «Veteranen für Kolumbien», die ehemalige Militär- und Polizeiangehörige umfasst, prangert in diesem Zusammenhang die hohe Beteiligung von ehemaligen kolumbianischen Militärs an Söldnergruppen auf der ganzen Welt an. Sie führen andere Beispiele in der Vergangenheit an, wo in Kolumbien ausgebildete Söldner in anderen Ländern (z.B. Honduras, Vereinigte Arabische Emirate) tätig gewesen sind. Ebenso wurden während einer grossangelegten Razzia in mehreren Stadtvierteln Caracas’ vor Kurzem mindestens drei kolumbianische Paramilitärs verhaftet.

https://www.ahilesva.info/6116cce5dc76de08e10f6c50

https://amerika21.de/2021/07/252442/haiti-affaere-duque-guaido?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

https://www.lanuevaprensa.com.co/component/k2/ony-intriago-reclutador-de-militares-sicarios-colombianos-organizo-con-ivan-duque-en-2019-el-concierto-de-cucuta-contra-la-narco-tirania-de-nicolas-maduro

https://www.justiciaypazcolombia.com/corporacion-veteranos-por-colombia-militares-en-reserva-veteranos-por-colombia-se-pronuncian-frente-a-la-participacion-de-militares-colombianos-en-retiro-en-el-magnicidio-del-presidente-de-haiti/

https://amerika21.de/2021/07/252345/sicherheitskraefte-venezuela-gangs?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

Volksversammlungen statt Strassenblockaden:

Die Proteste in Kolumbien dauern jetzt seit Ende April dieses Jahres an und sind weiterhin von viel Gewalt vor allem von seiten der Sicherheitskräfte geprägt. Doch die Protestierenden finden immer neue Möglichkeiten, ihrer Unzufriedenheit Raum zu geben und sich Gehör zu verschaffen. Zu Beginn der Proteste ging es hauptsächlich um zwei Reformen, eine steuerliche und eine des Gesundheitswesen, gegen die demonstriert wurde und die mittlerweile beide zurückgezogen wurden. Jetzt fordern die Streikenden von der Regierung eine Antwort auf die schwere humanitäre, soziale, ökonomische und politische Krise im Land? des Landes, so das Streikkomitée. Mittlerweile sind die Protestierenden von Strassenblockaden und dem Besetzen von öffentlichen Plätzen dazu übergegangen, lokale, regionale und nationale Volksversammlungen zu organisieren. Es gab bereits Anfang Juni eine erste Nationale Volksversammlung (ANP) in Bogotá, und nun fand eine zweite in Cali statt, beide mit je rund 2’000 Delegierten aus dem ganzen Land. Die Delegierten waren  unter anderem zusammengesetzt aus VertreterInnen von lokalen Volksversammlungen, Ersten Linien, Indigene, AfrokolumbianierInnen, ArbeiterInnen, DozentInnen und vielen mehr. An Runden Tischen wird dabei unter anderem die Forderungsliste an die Regierung sowie über Menschenrechte diskutiert.

https://amerika21.de/2021/07/252600/wieder-proteste-20-juli-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

Aktuelle Zahlen zur Kokainproduktion:

Kolumbien ist momentan der weltweit grösste Kokainproduzent. Dies eine Nachricht des Büros der UNO für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Obwohl der Anbau der Kokapflanze 2020 um sieben Prozent zurückgegangen war, stieg die Kokainproduktion um acht Prozent. Dies liegt an der Intensivierung der Produktion, es können also mehr Kokablätter auf einer Hektare geerntet werden, und die Menge an Alkaloid in einem Blatt hat auch zugenommen. Zudem wurde die Infrastruktur zur Produktion von Kokain vergrössert. 95% der registrierten Drogenanbaufläche befindet sich innerhalb der PDET Gemeinden, die von der kolumbianischen Regierung im Rahmen des Friedensabkommens als vorrangig für Entwicklung definiert wurden. Der Bericht der UNODC macht deutlich, dass die angestrebte Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung in diesen Gemeinden nicht erreicht wird und die Sicherheitslage trotz leicht abnehmender Tendenz sehr angespannt bleibt. Gleichzeitig unterstützt der Drogenhandel die kapitalistische Wirtschaft in Kolumbien. Laut einer Aussage des konservativen Ex-Finanzministers Juan Carlos Echeverry entspricht der Kokainverkauf ins Ausland ca. 4% des kolumbianischen Bruttoinlandprodukts (12 Mia. Dollar). Anstatt die Gewinner des Drogenhandels zu sanktionieren, die ihre Gewinne in Luxusinvestitionen waschen und auf Bankkonten in Steuerparadiesen horten, geht der kolumbianische Staat lieber gegen die ProduzentInnen von Kokablättern und die KonsumentInnen vor, die die schwächsten Glieder in der Kette des Drogenhandels darstellen.

https://www.npla.de/thema/umwelt-wirtschaft/kommentar-drogenhandel-stuetzt-die-wirtschaft/

https://www.colombiainforma.info/el-narcotrafico-sostiene-la-economia-en-colombia/

https://amerika21.de/2021/08/253098/kolumbien-kokainanbau?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

Gespräch zwischen Uribe und de Roux:

Am 16. August fand ein Gespräch statt zwischen Ex-Präsident Alvaro Uribe und dem Präsidenten der Wahrheitskommission Francisco de Roux. Im Vorfeld wurde bereits bekannt, dass Uribe ein Dokument mit 61 Punkten vorbereitet hatte, die er vorhatte, mit der Wahrheitskommission anzusprechen. Dies war so nicht mit der Wahrheitskommission abgesprochen und wurde im Nachhinein von de Roux kritisiert. Die Punkte waren in fünf Themenblöcke unterteilt: Demokratische Sicherheit (seguridad democrática), Regierung von Antioquia, Armee, unterschiedliche Behandlung von Guerilla und Paramilitär sowie die Wahrheitskommission. Das sogenannt ‘informelle’ Gespräch dauerte über zwei Stunden, wovon die meiste Zeit Uribe sprach. Gleich zu Beginn hielt er fest, dass er nichts halte von den Institutionen, die aus dem Friedensabkommen entstanden sind und bezeichnete sie als illegitim. Trotzdem schien er sich aber gezwungen zu sehen, seinen Beitrag zu leisten. Anstatt etwas Neues zu bringen, beschränkte sich Uribe allerdings darauf, erneut seine Sichtweise auf die Sicherheitsfrage und seinen Umgang mit der Armee darzulegen. Er forderte auch, dass die JEP reformiert werde, damit «die Armee eine unparteiische Gerichtbarkeit erfährt.» Der diplomatische de Roux meinte zum Gespräch, dass die Wahrheitskommission eben alle Akteure anhöre und alles, was Uribe sage, in ihre Analysen mit einfliessen werde. Wenn man die Aufzeichnungen des Gesprächs nachhört und Uribe auf der ausladenden Terrasse seiner Finca im Grünen hinter dem Tisch mit geblümten Tischtuch sieht, im Hintergrund fünf stolzierende Pfaue, seine Ausführungen begleitet vom Kreischen exotischer Vögel, bleibt der Eindruck, dass dies wiederum bloss eine Machtdemonstration eines der reichsten Männer des Landes ist.

https://www.eltiempo.com/politica/proceso-de-paz/charla-uribe-de-roux-se-conocieron-nuevos-detalles-611282

https://www.bluradio.com/nacion/las-frases-mas-polemicas-de-la-tensa-reunion-entre-alvaro-uribe-y-el-padre-de-roux

https://lasillavacia.com/la-silla-vacia/envivo/#en-vivo-143585

III.  Tipps und Hinweise

 Frieden in Kolumbien? Die Lage 5 Jahre nach dem Abkommen

Die ask! veranstaltet von Mitte August bis Ende November 2021 eine Informationskampagne zum Thema Frieden in Kolumbien. Mit Posts auf Facebook, Filmabenden, Podiumsdiskussionen etc. informieren wir über die Lage in Kolumbien fünf Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens.

Mehr Informationen zur Kampagne und zu verschiedenen Anlässen im Rahmen der Kampagne findest du hier auf Facebook und unter www.askonline.ch

A Colombian Family – Film und Gespräch

16.9.2021, Türöffnung 19:00 Uhr, Filmstart 19:30 Uhr

Kino in der Reitschule, Bern

Eintritt Kollekte

Eine Mutter und Tochter konfrontieren die Vergangenheit nach Jahren des Bürgerkriegs, aber enden im schwierigen Dilemma zwischen Versöhnung und politischen Idealen.

Die Veranstaltung ist Teil der Informationskampagne der ask! „Frieden in Kolumbien? Die Lage 5 Jahre nach dem Abkommen“.

 

Kolonialistische Strukturen in Nariño:

Das Kollektiv Orlando Fals Borda (COFB) und das Menschenrechtsnetzwerk REDHPANA haben im Zentrum für Erinnerung, Frieden und Versöhnung in Bogotá einen Bericht vorgestellt über den strukturellen Rassismus und die Gewalt im Pazifikdepartement Nariño im Süden des Landes. Im Unterschied zu anderen Analysen zeigt diese Einschätzung, dass die Grundlage der Gewalt nicht unbedingt Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen sind, sondern vielmehr der strukturelle Rassismus des Staates, dem das Interesse an der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen zugrunde liegt, und somit immer noch eine zutiefst kolonialistische Haltung darstellt.

https://amerika21.de/2021/07/252446/gewalt-der-pazifikregion-kolumbiens?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

Der vollständige Bericht ist zu finden unter: https://www.cofb.org.co/sites/default/files/RESUMEN_EJECUTIVO_IFORME_PACI%CC%81FICO_NARIN%CC%83ENSE.pdf

IV.  Lesenswerte Artikel