Kolumbien-aktuell No. 619 | November/Dezember 2021

Das zu Ende gehende Jahr 2021 scheint leider das gewalttätigste seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zu werden. Die Umsetzung des Friedensabkommens kommt weiterhin nur schleppend voran. Nach einem Drittel der Zeit für die Umsetzung des Abkommens sind Kapitel wie politische Partizipation oder die Integrale Agrarreform aber auch die Bestimmungen zur Drogenpolitik immer noch wenig fortgeschritten. Die Regierung Duque scheint sich weiterhin vor allem auf die Kritiker der Gewaltspirale und Menschenrechtskrise einzuschiessen statt wirklich an Lösungen zu arbeiten. Trotzdem gibt es zum Jahresende auch ein paar gute Nachrichten: Dank der Beharrlichkeit vieler Organisationen kommt immer wieder ein Stückchen Wahrheit ans Licht, die kolumbianische Justiz sorgt immer wieder für Gerechtigkeit und die FARC wurden endlich von der US-Terrorliste entfernt.

ASK!

I.   Artikel

 Das Problem des Drogenhandels – oder eine Frage der Priorisierung

Der Punkt 4 des kolumbianischen Friedensabkommens dreht sich um die Lösung des Drogenproblems. Um zwei nationale Programme strukturiert, sucht dieser Punkt die Produktion und Kommerzialisierung von illegalen Drogen, hauptsächlich Kokain und Marihuana, zu unterbinden. Es geht darum, den Drogenhandel als eine Hauptursache des bewaffneten Konflikts und der andauernden Gewalt aufzulösen.

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/allgemein/das-problem-des-drogenhandels-oder-eine-frage-der-priorisierung

Die Verhaftung von Otoniel verringert den Drogenhandel kaum

Am 23. Oktober 2021 wurde Dairo Antonio Úsuga, alias Otoniel, gefasst. Präsident Duque verkündete auf der Militärbasis Tolemaida, dass dies der wichtigste Schlag gegen den Drogenhandel in Kolumbien im 21. Jahrhundert sei und nur mit dem Tod von Pablo Escobar in den 90er Jahren vergleichbar sei. Mit der Verhaftung von Alias Otoniel in der Operation Osiris sei das Ende des Clan del Golfo besiegelt. Diesen Aussagen Duques liegt eine verbreitete falsche Annahme zu Grunde, dass mit dem Entfernen des Kopfes einer kriminellen Organisation automatisch deren Handlungsfähigkeit verschwinde.

(Von Stephan Suhner)

https://www.askonline.ch/allgemein/die-verhaftung-von-otoniel-verringert-den-drogenhandel-kaum

II.  Apropos

Dramatische Zunahme der internen Vertreibungen im Jahr 2021
Das UNO-Büro für humanitäre Angelegenheiten hat am 10. Dezember 2021 den Bericht „Humanitäre Auswirkungen und Tendenzen” veröffentlich und darin ein dramatisches Bild über die gewaltsamen Vertreibungen in Kolumbien gezeichnet. Bis Oktober 2021 sei es zu 136 massiven Vertreibungen mit über 60’000 Opfern gekommen. Von Januar bis Oktober 2021 haben die internen Vertreibungen im Vergleich zu 2020 um fast 200% zugenommen. Gemäss Juliette de Rivero, Vertreterin der UNO Hochkommissarin für Menschenrechte in Kolumbien geht dieser Anstieg auf eine Zunahme der Gewalt durch illegale bewaffnete Gruppen in verschiedenen Landesregionen zurück. Die UNO fordert Kolumbien auf, rasche Antworten gegen dieses Phänomen zu finden und die neuen bewaffneten Strukturen wie im Friedensabkommen festgehalten aufzulösen. Weiter kam es zu über 200 Angriffen auf die Zivilbevölkerung, eine Zunahme um 41% gegenüber dem Vorjahr. Gemäss Marco Romero von der NGO Codhes ist 2021 damit das gewalttätigste Jahr seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens. Besonders betroffen von gewaltsamer Vertreibung oder Eingeschlossensein in ihren Gemeinschaften sind die afrokolumbianischen und indigenen Bevölkerungsgruppen; beinahe 50‘000 Afros und Indigene sind wegen Kampfhandlungen in ihren Gemeinschaften eingeschlossen. Die Pazifikregion stellt 75% aller gewaltsam Vertriebener, und in den Departementen Valle, Cauca, Chocó und Nariño wurden 45 Menschenrechtsverteidiger umgebracht.

https://noticias.canal1.com.co/nacional/dramatico-panorama-desplazamiento-pais/

Oberster Gerichtshof spricht linke Parlamentarier vom Vorwurf zu Gewalt aufzurufen frei

Am Freitag, 10. Dezember 2021 hat der Oberste Gerichtshof (Corte Suprema de Justicia) den Beschluss veröffentlicht, keine formelle Untersuchung gegen die Kongressabgeordneten Gustavo Bolivar, Gustavo Petro und Iván Cepeda wegen Aufruf zur Begehung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Protestmärschen ab dem 28. April 2021 aufzunehmen. Der Oberste Gerichtshof hielt fest, dass die Parlamentarier ihre Anhänger nie zu Gewalt aufgerufen hätten. Sie hätten in ihren Tweets die Märsche und Proteste unterstützt und zum Teil auch ihre eigene Teilnahme angekündigt, aber immer verbunden mit dem Aufruf, dass diese friedlich sein müssen. Cepeda sagte dazu, dass eine weitere Verleumdung in sich zusammengefallen sei und dass es eine weitere Niederlage für die auf Hass und Lügen basierte Politik bedeute. Die Parlamentarier waren von den beiden Bürgern Humberto Montoya Marín und Marco Tulio Garzón Álvarez angezeigt worden. Es ist das zweite Mal, dass die Parlamentarier vom Vorwurf, zu Gewalt und Verbrechen aufgerufen zu haben, freigesprochen wurden. Im Juni wurde eine Anzeige der Parlamentarier Luis Manuel Ramos y José Orlando Díaz abgewiesen.

https://cuartodehora.com/2021/12/11/corte-suprema-no-investigara-a-los-senadores-petro-cepeda-y-bolivar-por-instigar-a-delinquir-en-las-pasadas-marchas/                                      

https://www.infobae.com/america/colombia/2021/12/11/corte-suprema-de-justicia-desistio-de-procesar-a-petro-a-bolivar-y-a-cepeda-por-sus-trinos-en-el-paro-nacional-donde-supuestamente-incitaban-a-la-violencia/

Neuartige Untersuchung der Wahrheitskommission bringt Licht in das Schicksal der Verschwundenen des Palacio de Justicia

Die Wahrheitskommission hat mit einer neuartigen Untersuchung gemeinsam mit Forensic Architecture aufzeigen können, was mit den Personen passierte, die den Palacio de Justicia nach der Besetzung durch das M-19 lebend verlassen hatten. Die Untersuchung konzentrierte sich also weniger auf das was am 6. November 1985 – als das M-19 den Justizpalast angriff – in dessen Innern passierte. Die Untersuchung konnte die Version der Sicherheitskräfte, dass die Personen im Kugelhagel umkamen, wiederlegen und vier Personengruppen identifizieren, die lebend aus dem Justizpalast geführt wurden. Eine erste Gruppe von Besuchern des Justizpalastes wurde in Militäreinrichtungen gefoltert, überlebten aber. Bei der zweiten Gruppe handelte es sich um Chauffeure, die in der Kaserne Cantón Norte inhaftiert waren, aber ebenfalls überlebten. Eine dritte Gruppe umfasste Zivilisten, die einer Sicherheitskontrolle unterzogen wurden, als Geiseln eingestuft wurden und einige später tot aufgefunden wurden. Bei der letzten Gruppe handelt es sich um Besucher und Mitarbeiter der Cafeteria, von denen niemand überlebte. Der Bericht deckt auf, wie die Casa del Florero als Verhörzentrum diente, von wo aus die Überlebenden in Militäreinrichtungen wie den Cantón Norte transferiert und dort gefoltert und exekutiert wurden.

https://www.infobae.com/america/colombia/2021/12/11/toma-del-palacio-de-justicia-investigacion-inedita-revela-como-sobrevivientes-fueron-torturados-y-ejecutados-en-instalaciones-militares/

Ehemalige FARC nicht mehr auf der US-Terrorliste

Ende November sorgte die Nachricht für Überraschung, dass die USA die ehemalige FARC-EP von der Liste der Terrororganisationen gestrichen habe. Wurde ja auch Zeit, mögen sich viele gedacht haben. Andere – insbesondere ein Teil der Opfer der FARC und Exponenten des Centro Democrático – reagierten mit Wut und Unverständnis auf diese Entscheidung. Die Aussenministerin Claudia Blum und der Verteidigungsminister Diego Molano behaupteten sogar, dass die Partei Comunes Verbindungen zu den Dissidenzen habe. Die FARC wurden in dem Sinn nicht von der Liste gestrichen, die Liste wurde vielmehr einfach aktualisiert. Die FARC-EP in ihrer bisherigen Form gibt es ja nicht mehr, dafür wurden viele Nachfolgeorganisationen respektive Dissidenzen auf die Liste aufgenommen. Und tatsächlich sind die FARC als Partei, respektive die Partei Comunes, keine terroristische Organisation mehr, 90% der ehemaligen Kämpfer der FARC haben in den letzten 5 Jahren keine organisierten Gewaltakte begangen. Wäre die Liste nicht aktualisiert worden, wären die demobilisierten FARC den Dissidenzen wie Gentil Duarte gleichgestellt geblieben. Trotz der Bereinigung der Liste: Die FARC haben während des Konfliktes eine Vielzahl an Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen begangen, für die sie sich verantworten müssen, daran ändert die Entfernung von der Liste der Terrororganisationen nichts. Weiter werden auch die Auslieferungsersuchen der US-Justiz gegen ehemalige FARC-Kommandanten weiterbestehen, sei es beispielsweise wegen Drogenhandel oder der Entführung von US-Bürgern. Dass die FARC solange noch auf der Terrorliste figurierten, hatte aber auch gewichtige Nachteile: so konnten keine Hilfsgelder aus den USA in ihre Projekte fliessen, da sich die Geldgeber schuldig gemacht hätten.  Selbst die Gewährung von Unterkunft, der Transport von FARC-Vertretern oder die Beratung von Projekten in den Übergangszonen durch US-Bürger hätte mit Haft bestraft werden können.

https://razonpublica.com/implica-las-farc-ya-no-esten-la-lista-terroristas-estados-unidos/

III. Tipps und Hinweise

 Konzernverantwortung: Veranstaltungsreihe „Glencore schmutziges Kohlegeschäft“

Während auf politischer Ebene um den Kohleausstieg gerungen wird, macht der Schweizer Konzern Glencore Milliardengewinne mit dem klimaschädlichen Rohstoff.

Beispielweise in Kolumbien, wo Glencore seine Investition in die Kohlemine El Cerrejón massiv ausgebaut hat, obwohl die Mine für massive Umweltzerstörung verantwortlich ist. Damit nicht genug: Der Konzern will mit einer Investitionsschutzklage gegen Kolumbien dafür sorgen, dass er die Mine weiter vergrössern kann.

Wir diskutieren mit einer kolumbianischen Anwältin und einer Vertreterin aus der betroffenen Region Guajira über ihren jahrzehntelangen Kampf gegen die Glencore-Kohlemine und sprechen über das umstrittene Instrument Investitionsschutzklagen.

Ausserdem informieren wir über die kommenden Aktivitäten der Koalition für

Konzernverantwortung in der Schweiz.

EINE VERANSTALTUNG MIT:

Rosa María Mateus Parra, Anwältin des

Colectivo de Abogados José Alvear Restrepo, Kolumbien

Monica Lopez Pushaina, Vertreterin der lokalen

Wayúu-Gemeinschaft, Kolumbien

Silvia Steininger, Expertin für Investitionsschutzrecht,

Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Deutschland

Seraina Patzen, Koalition für Konzernverantwortung, Schweiz

Moderation: Daniel Hitzig

DATEN:

Dienstag, 18. Januar 2022, 19:30 Uhr

Basel, Markthalle im Wohnzimmer

Mittwoch, 19. Januar 2022, 19:30 Uhr

Zürich, Volkshaus im Weissen Saal

Freitag, 21. Januar 2022, 19:30 Uhr

Luzern, Neubad

Samstag, 22. Januar 2022, 18:30 Uhr

Bern, Alpines Museum im Hodlersaal

Eine Anmeldung ist aufgrund der unsicheren Corona-Lage zwingend,

um Sie über allfällige kurzfristige Änderungen zu informieren:

www.konzern-initiative.ch/veranstaltung

Wie geht Frieden? Kolumbien und der schwierige Weg aus dem Krieg

Über 50 Jahre lang herrschte Krieg in Kolumbien zwischen der linken FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung. Vor fünf Jahren trat in Kolumbien dann ein historischer Friedensvertrag in Kraft. Wurden die Ziele erreicht? Wie gehts der kolumbianischen Bevölkerung heute? 

https://www.srf.ch/audio/news-plus/wie-geht-frieden-kolumbien-und-der-schwierige-weg-aus-dem-krieg?id=12099842

IV.   Lesenswerte Artikel

 

– UNO-Bericht bestätigt 52 Tote durch Polizei und zivile Täter bei Protesten in Kolumbien

https://amerika21.de/2021/12/256048/uno-bestaetigt-52-tote-kolumbien-proteste?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily 

Amerika21 Spezial: 5 Jahre Friedensabkommen Kolumbien: https://amerika21.de/dossier/friedensgespraeche-kolumbien 

Kolumbien: „Ein historisches Urteil für die Frauen und die Pressefreiheit https://www.boell.de/de/2021/10/27/kolumbien-ein-historisches-urteil-fuer-die-frauen-und-die-pressefreiheit

Wir haben Männer, Waffen, Kokain und eine Grenze – warum sollen wir aufgeben?

https://www.nzz.ch/international/5-jahre-nach-dem-friedensschluss-ist-kolumbien-kaum-weiter-ld.1652885?reduced=true

-Neue Schlupflöcher für Konzerne beschlossen: Bundesrat ignoriert Volksmehr und Vernehmlassung: https://konzern-initiative.ch/medienmitteilung/neue-schlupfloecher-fuer-konzerne-beschlossen-bundesrat-ignoriert-volksmehr-und-vernehmlassung/

 

 

Redaktion: Stephan Suhner