Kolumbien-aktuell No. 622 | März 2022

Im letzten Monat ist Einiges passiert in Kolumbien. Am 13. März waren Parlamentswahlen und es wurde vorgewählt, welche Präsidentschaftskandidat*innen Ende Mai antreten dürfen. Die Resultate sind keine grossen Überraschungen, aber durchaus bemerkenswert. Zum Beispiel hat Francia Marquez als Vertreterin der ‘Niemande’ die Chance, Vizepräsidentin zu werden. Ebenso wurden zum ersten Mal 16 Friedenssitze für das Parlament gewählt, die für Opfer des Konflikts reserviert sind. Sehr hoffnungsfrohe Neugkeiten, die natürlich nicht ohne Schatten auf die Bühne traten. Und trotzdem sollte das ihren transformativen Charakter nicht abschwächen. Betrachtet man die neusten Berichte von internationalen Organismen, braucht Kolumbien mehr denn je einen Wandel in eine neue Richtung.

 ASK!

I. Artikel

 «Soy porque somos»

Kolonialismus, Sklaverei, patriarchale Strukturen, Umweltzerstörung. Das sind Worte mit Gewicht. Gefüllt mit Geschichte(n), mit Bedeutung, mit Verantwortung. Es sind Begriffe, über die ewig diskutiert werden kann, werden soll. Wir wünschen uns einen Wandel, weg von diesen Begriffen. Eine echte Transformation, nicht bloss eine erneute Reform des ewig gleichen Systems. Doch eine Transformation passiert nicht über Nacht. Eine Transformation ist eine wellengleiche Entwicklung, vor und zurück, bis irgendwann die Welle überschlägt und an einem bestimmten Ort ein neuer Rhythmus beginnt. Überschlägt da gerade eine Welle in Kolumbien?

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/ich-bin-weil-wir-sind

Die sozialen Bewegungen in Arauca – zwischen Angriffen der bewaffneten Gruppen und gerichtlichen Verfolgungen durch den Staat

Seit Ende 2021 und besonders Anfang 2022 haben sich in Arauca die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Akteuren verschärft, ebenso die gerichtliche Verfolgung und die Gewalt gegen soziale Bewegungen und ihren Führungspersonen. Die sozialen Bewegungen sind nicht nur mit der Stigmatisierung und gerichtlichen Verfolgung durch den Staat konfrontiert, sondern auch mit zunehmenden Fällen von Drohungen, Angriffen und Ermordungen, wie zum Beispiel der Autobombenanschlag vom 19. Januar 2022 gegen den Sitz von mehreren sozialen Organisationen in Saravena. Angesichts dieser Situation unternahm Sonia López, Präsidentin der Stiftung für Menschenrechte «Joel Sierra», im März eine Reise nach Europa und auch in die Schweiz.

(Von Carla Ruta)

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/die-sozialen-bewegungen-in-arauca-zwischen-angriffen-der-bewaffneten-gruppen-und-gerichtlichen-verfolgungen-durch-den-staat

II. Apropos

 IKRK Bericht ohne Überraschungen:

Der neuste Bericht vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) zu Kolumbien betrifft das Jahr 2021 und hält unter anderem fest, dass in diesem Jahr die Effekte der sechs definierten internen Konflikte und die Gewalt auf das höchste Niveau der letzten fünf Jahre anstieg. «Colombia no debería seguir acostumbrada a la guerra». Internationale Menschenrechte werden ignoriert, und die Menschen in den betroffenen Gebieten können weder ihren täglichen Subsistenzaktivitäten nachgehen, noch ist der Zugang zu Basisdienstleistungen wie Gesundheitseinrichtungen gewährleistet. Besonders hervorgehoben wird der Anstieg an Personen, die von explosiven Artefakten getroffen werden, sowie 168 neue Fälle von Verschwundenen. Weiter sind auch Vertreibungen und Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit erneut vermehrt vorgekommen.

In den Empfehlungen steht an erster Stelle ein Aufruf an die kommende Regierung, die Opfer und betroffenen Gemeinschaften des Konflikts besser zu schützen und sie auf der politischen Agenda weit vorne aufzulisten. Grundsätzlich sind die meisten Empfehlungen an die Regierung und die anderen bewaffneten Akteure gerichtet, einige gehen aber auch an die Zivilbevölkerung.

https://www.icrc.org/es/document/balance-humanitario-colombia-2022-dih

https://www.elespectador.com/colombia-20/conflicto/2021-fue-el-ano-mas-violento-en-colombia-dice-informe-anual-del-comite-de-la-cruz-internacional-de-cruz-roja/

https://www.eltiempo.com/justicia/conflicto-y-narcotrafico/informe-de-cicr-sobre-violaciones-al-dih-en-colombia-en-2021-660203

Bachelet’s Bericht präzise, aber auch ohne Überraschungen:

Der neueste Bericht der Menschenrechtskommission der UNO in Kolumbien über das Jahr 2021 beinhaltet vier Hauptkritikpunkte. Dies sind die limitierte integrale Präsenz des Staates in grossen Teilen des Landes, der Fakt, dass Kolumbien das zweitungleichste Land der Region ist, was vor allem bereits marginalisierte Gruppen weiter beeinträchtigt und sich auch in der politischen Teilnahme bestimmter Bevölkerungsgruppen niederschlägt. Weiter wird die Gewalt angesprochen, die im letzten Jahr wiederum besorgniserregend angestiegen ist, und schlussendlich die schwachen Fortschritte in der Umsetzung des Friedensabkommens. In einer Kolumne im El Espectador schreibt Gustavo Gallón, dass diese vier Punkte zentrale Punkte in der Agenda eines jeden würdigen Präsidentschaftskandidaten sein müssten.  

https://www.elespectador.com/opinion/columnistas/gustavo-gallon/cuatro-malignos-tumores-por-extirpar/

Präsidentschaftswahlen:

Momentan gibt es drei Präsidentschaftskandidaten, die laut den Umfragen Chancen auf einen Gewinn haben. Das ist einerseits Federico Gutierrez, ehemaliger Bürgermeister von Medellín und Kandidat der Koalition ‚Equipo por Colombia‘, unterstützt von Oscar Ivan Zuluaga, Kandidat des Centro Democratico, der seine Kandidatur aber zurückgezogen hat, um Gutierrez zu unterstützen. Dann ist da Sergio Fajardo von der Koalition ‚Centro Esperanza‘, der bereits 2018 gegen Petro und Duque angetreten und im ersten Wahlgang ausgeschieden war. Der dritte im Bunde ist Gustavo Petro, Kandidat der linken Koalition ‚Pacto Historico‘, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und auch zum zweiten Mal am kandidieren.

Weitere Kandidaten sind Ingrid Betancourt für die Partei Verde Oxígeno, Rodolfo Hernández, Unternehmer und ehemaliger Bürgermeister von Bucaramanga, Luis Pérez Gutiérrez, Mathematiker und ebenfalls ehemaliger Bürgermeister von Medellín, John Milton Rodríguez, Pastor und Gegner des Friedensabkommens, Luis Murillo, ehemaliger Umweltbeauftragter von Bürgermeister Antanas Mockus und ehemaliger Gouverneur von Chocó, und Enrique Gómez, Neffe vom konservativen Politiker Alvaro Gómez Hurtado, der 1995 ermordet wurde und Enkel vom konservativen Präsidenten Laureano Gómez.

Experten sprechen vor allem Gutierrez und Petro Chancen zu, die Wahl zu gewinnen. Ein wichtiger Stein auf dieser Waage zwischen links und rechts war bis vor kurzem die liberale Partei, die der Seite, die sie dann unterstützt, viele Stimmen geben kann. Gustavo Petro hatte monatelang versucht, Brücken zu bauen, aber Francia Marquez hat Cesar Gaviria (Präsident der liberalen Partei) öffentlich als Neoliberalisten und ‚mehr vom Gleichen‘ kritisiert, worauf dieser sich dafür entschied, Petro und dem linken Pakt den Rücken zu kehren.

Laut aktuellen Umfragen würde Petro in einem zweiten Wahlgang gegen Gutiérrez ganz knapp gewinnen. 

https://www.eltiempo.com/elecciones-2022/presidencia/candidatos-presidenciales-2022-estos-seran-los-10-aspirantes-658228

https://www.lasillavacia.com/historias/silla-nacional/el-juego-liberal-para-la-presidencia-entre-petro-y-fico-y-de-cesar-a-simon/

https://www.lasillavacia.com/historias/silla-nacional/el-desatrase-la-semana-en-que-cesar-gaviria-le-dijo-no-a-gustavo-petro/

https://www.npla.de/thema/tagespolitik/linksbuendnis-gewinnt-gegen-uribismus/

Curules de Paz:

Am 13. März wurden an den Parlamentswahlen zum ersten Mal 16 Sitze an Opfer des bewaffneten Konflikts vergeben. Dies war so im Friedensabkommen abgemacht mit dem Ziel, den Menschen, die vom Konflikt am meisten betroffen waren (und es immer noch sind) politische Teilnahme zu ermöglichen, damit die ländlichen Regionen, aus denen die Menschen kommen, auch endlich auf der politischen Bildfläche erscheinen. Dabei wurden die 167 am meisten betroffenen Gemeinden in 16 Wahlbezirke unterteilt, die jeweils eine*n Vertreter*in wählen, die oder der dann für vier Jahre im Parlament sitzt. Insgesamt wird es diese Friedenssitze für zwei Wahlperioden, also von 2022-2030 geben. Einige Schwierigkeiten wurden bereits im Vorfeld ausgemacht. So mussten beispielsweise die Kandidaten eine Summe für die Einschreibung bezahlen, die für Kleinbauern oder Indigene fast unüberwindbar hoch ist. Zudem fand natürlich die traditionellen politischen Maschinerie auch hier wieder Schlupflöcher, um ihre eigenen Leute rein zu schmuggeln, obwohl die Anforderungen für die Kandidaten klar ausschlossen, dass Mitglieder von politischen Parteien oder auch ehemalige bewaffnete Akteure an den Wahlen teilnehmen. Ende März waren elf Sitze bestätigt, fünf immer noch in der Auszählung. Fünf der gewählten Kandidaten, also fast ein Drittel, haben verdächtige Beziehungen zu politischen Clans oder Paramilitärs, das wohl bekannteste Beispiel ist Jorge Tovar, der Sohn von Jorge Cuarenta, einem ehemaligen Pararmilitär, der jetzt der Repräsentant für die Departemente Cesar, La Guajira und Magdalena ist. Dazu kommt, dass die Parlamentswahlen selbst nicht ohne Kontroversen verliefen. Zuerst wurde von linker Seite und dann auch von rechter Seite kritisiert, dass Betrug im Spiel sei und Neuauszählungen nötig seien. Dazu kam es dann schlussendlich aber nicht.

https://verdadabierta.com/curules-de-paz-victimas-sienten-que-les-robaron-su-espacio/

https://www.elespectador.com/colombia-20/circunscripciones-de-paz-2022/

https://www.elespectador.com/colombia-20/analistas/nuevas-posibilidades-para-la-paz-curules-y-experiencias-territoriales/

https://www.elespectador.com/colombia-20/analistas/las-curules-para-la-paz-entre-cuestionamientos-e-incertidumbres/

https://www.elespectador.com/colombia-20/paz-y-memoria/jorge-tovar-hijo-del-exparamilitar-jorge-40-se-quedo-con-una-curul-de-paz/

https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-60843029

III.Tipps und Hinweise

 Veranstaltungsreihe «Glencores schmutziges Kohlegeschäft»

Mittwoch, 27. April, 19:30 Uhr: Basel, Markthalle

Donnerstag, 28. April, 19:30 Uhr: Luzern, Neubad

Freitag, 29. April, 19:30 Uhr: Zürich, Volkshaus

Samstag, 30. April, 18:30 Uhr: Bern, Alpines Museum

Montag, 2. Mai, 19:30 Uhr: Lausanne, Salle du Cazard (Veranstaltung auf Französisch)

Dienstag, 3. Mai, 19:30 Uhr: Genf, Salle Gandhi-Carson, Maison Internationale des Associations (Veranstaltung auf Französisch)

 Während auf politischer Ebene um den Kohleausstieg gerungen wird, macht der Schweizer Konzern Glencore Milliardengewinne mit dem klimaschädlichen Rohstoff. Beispielweise in Kolumbien, wo Glencore seine Investition in die Kohlemine El Cerrejón massiv ausgebaut hat, obwohl die Mine für massive Umweltzerstörung verantwortlich ist. Damit nicht genug: Der Konzern will mit einer Investitionsschutzklage gegen Kolumbien dafür sorgen, dass er die Mine weiter vergrössern kann.

Der Verein Konzernverantwortungsinitiative diskutiert mit einer kolumbianischen Anwältin und einem Vertreter aus der betroffenen Region Guajira über ihren jahrzehntelangen Kampf gegen die Glencore-Kohlemine und sprechen über das umstrittene Instrument Investitionsschutzklagen.

 Eine Veranstaltung mit :

  • Rosa María Mateus Parra, Anwältin des Colectivo de Abogados José Alvear Restrepo, Kolumbien
  • Samuel Arregoces, Vertreter der lokalen Gemeinschaften um die Cerrejón-Mine, Kolumbien
  • Silvia Steininger, Expertin für Investitionsschutzrecht, Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Deutschland
  • Seraina Patzen, Koalition für Konzernverantwortung, Schweiz

Moderation: Daniel Hitzig

https://www.askonline.ch/veranstaltungen

IV. Lesenswerte Artikel:

 

Redaktion: Lisa Alvarado