Kolumbien-aktuell No. 628 | Oktober 2022
Seit 35 Jahren gibt die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien der kolumbianischen Zivilgesellschaft in der Schweiz eine Stimme. Dies jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten und auf verschiedene Art und Weise. Unser Anliegen hat in den letzten Jahren an Wichtigkeit nichts eingebüsst – im Gegenteil, der kolumbianischen Zivilbevölkerung eine Stimme zu verleihen bleibt auch heute extrem wichtig. Trotzdem ist für uns als Arbeitsgruppe die Zeit gekommen, eine strukturelle Veränderung vorzunehmen: Die Fachstelle der ask! wird im 2023 aufgelöst.
Verschiedene Faktoren haben zu dieser Entscheidung beigetragen und obwohl es uns sehr schwer gefallen ist, sind wir der Überzeugung, dass dies der richtige Schritt für unseren Verein ist. Wir hoffen, dank dem Engagement unserer freiwilligen Mitglieder auch zukünftig einen wertvollen Beitrag für die Menschenrechte in Kolumbien leisten zu können und in der Schweiz unsere Informationsarbeit weiterführen zu können. Ebenso ist es uns ein Anliegen, mit anderen Organisationen zu prüfen, welche von unseren Aktivitäten sie übernehmen könnten, damit in der Schweiz durch die Schliessung der Fachstelle keine Lücke in der Menschenrechtsarbeit für Kolumbien entsteht. Für unseren monatlichen Newsletter bedeutet die Schliessung der Fachstelle konkret, dass wir den Versand einstellen werden. Das letzte «Kolumbien-aktuell» wird im Dezember 2022 erscheinen. Zu den von der ask! bearbeiteten Themen werden wir allerdings weiterhin Artikel auf unserer Webseite publizieren. Erreichen könnt ihr uns bis auf Weiteres unter fachstelle.bern@askonline.ch. Doch vorläufig bleiben mit diesem noch zwei Newsletter, die wir unter anderem dank dem Regierungswechsel in Kolumbien mal wieder mit mehrheitlich positiven Nachrichten füllen dürfen, was uns ausserordentlich freut!
I. Artikel
Umstrittenes Abkommen mit dem Viehzüchterverband FEDEGAN soll der Agrarreform zum Durchbruch verhelfen
Die Regierung von Gustavo Petro hat einen weiteren Schritt hin zur Umsetzung der Agrarreform gemacht. Die Landwirtschaftsministerin Cecilia Lopez erreichte am Donnerstag 6. Oktober 2022 ein Abkommen mit dem Verband der Viehzüchter FEDEGAN, wonach dieser dem Staat drei Millionen Hektaren Land verkaufen will. Dieses Land soll in den Landfonds fliessen, der mit dem Friedensabkommen 2016 geschaffen wurde und in den in den ersten zehn Jahren eben drei Millionen Hektaren Land einfliessen sollen. Weiter soll auch Land durch Widerruf des Besitzrechts, Land das wegen Umweltnormen an den Staat zurückfällt, zurückgewonnene Brachflächen und Schenkungen dazukommen. Vorbereitet wurde das Abkommen zwischen Senator Ivan Cepeda und dem Präsidenten des Viehzüchterverbandes, José Félix Lafaurie.
(Von Stephan Suhner)
Ungleiche Verhandlungen um die Lunge der Erde
Der Amazonas ist beliebt für das Geschäft mit Emissionszertifikaten. Schliesslich wird die grösste Waldfläche der Welt nicht umsonst ‘Lunge der Erde’ genannt. Die Millionen Bäume speichern das CO2, das Fabriken andernorts ausstossen. Doch dieses marktbasierte Konzept, das darauf baut, den Ausstoss von CO2 meist im globalen Norden zu kompensieren, indem meist im globalen Süden Wälder aufgeforstet oder geschützt werden, kreiert nicht nur laufend neue Probleme, sondern schliesst sich auch zu einem Teufelskreis, der in keiner Weise nachhaltig ist und nicht zu einer besseren CO2 Bilanz beiträgt.
(Von Lisa Alvarado)
“Es wird keinen vollständigen Frieden geben, bis wir die verschwundenen Personen nicht wieder bei uns haben” Interview mit Cesar Santoyo vom Colectivo Orlando Fals Borda
Cesar Libardo Santoyo Santos, Direktor der kolumbianischen Nicht-Regierungsorganisation (NRO) Colectivo Socio jurídico Orlando Fals Borda, war Ende 2021 auf einer Speakertour in Europa, zusammen mit seiner Arbeitskollegin Deidania Perdomo Hite. Sie nahmen auch an mehreren Anlässen in der Schweiz teil. Diese fanden im Rahmen der ask! Informationskampagne zu 5 Jahre Friedensabkommen zwischen der FARC-EP Guerrilla und der kolumbianischen Regierung statt. Was sind heute die Herausforderungen, die Fortschritte und Hoffnungen und was ist die Rolle der internationalen Gemeinschaft bei der Suche nach den Verschwundenen?
(Von Carla Ruta)
II. Apropos
Grenzöffnung zwischen Kolumbien und Venezuela:
Ende September wurde nach sieben Jahren die Grenzbrücke zwischen Cúcuta und San Antonio del Táchira für den Frachtverkehr geöffnet. Sie war seit 2015 gesperrt, seit einem halben Jahr war sie bereits wieder für Fussgänger geöffnet. Im selben Zug wurden weitere Grenzübergänge für Fussgänger geöffnet, später wurde auch der Flug- und PKW-Verkehr reaktiviert. An der Eröffnungszeremonie betonten die beiden Präsidenten Petro und Maduro die Wichtigkeit der Wiedereröffnung der Grenze für den gemeinsamen Handel. Petro will die Wiederbelebung des Aussenhandels mit Venezuela für die Ankurbelung des Industriesektors in Kolumbien nutzen. Hauptsächlich geht es dabei um Exporte von Manufakturen aus Kolumbien und Importe von Stahl und Aluminium aus Venezuela.
Anfangs November reiste Petro zudem nach Caracas für ein ausführliches Gespräch mit Nicolás Maduro, worauf die beiden Präsidenten eine ausführliche Pressemitteilung herausgaben, die zeigt, dass beide Regierungen an einer zukünftigen Zusammenarbeit interessiert sind. Ebenso wollen sie einen Wiederbeitritt Venezuelas zum Interamerikanischen Menschenrechtssystem, welches Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist, prüfen.
https://www.telesurtv.net/news/venezuela-colombia-reapertura-frontera-oficial-20220926-0010.html
Ratifizierung des Escazú-Abkommens:
Obwohl Kolumbien 2019 das Escazú-Abkommen (regionales Abkommen in Lateinamerika und der Karibik über den Zugang zu Information, Beteiligung der Öffentlichkeit und juristische Prüfung in Umweltangelegenheiten) unterzeichnet hat, fehlte bisher die Ratifizierung durch den Kongress, welche nun Anfangs Oktober 2022 vollzogen wurde. Wie Experten festhalten, ändert sich mit dieser Unterzeichnung nichts Grundlegendes, es ist mehr eine symbolische Sache. Allerdings gibt es Raum, sich aktiver für den Umweltschutz einzusetzen. Beispielsweise werden Bürger*innen in Zukunft einfacher an Informationen gelangen können, wenn es um grosse extraktive Projekte geht, Umweltschützer*innen sollen umfassender und besser geschützt werden und es soll eine Stelle der Staatsanwaltschaft geben, die sich exklusiv mit Umweltthemen und -verbrechen befasst. Die Umweltministerin kündigte bereits Pläne an, wie die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für die Bürgerbeteiligung bei der Vergabe von Umweltgenehmigungen, sowie Massnahmen in der Verwaltung, um den Zugang zu Information zu erleichtern und eine Strategie zum besseren Schutz von Umweltaktivist*innen. Die grosse Hoffnung besteht darin, dass die Ratifizierung dieses Abkommens einen entscheidenden und effektiven Schritt in Richtung Schutz der Umweltschützer*innen ist/darstellt, damit Kolumbien nicht mehr die Liste der unsichersten Länder für Umweltschützer*innen anführt, wie dies in letzten Jahren der Fall war.
Abkommen zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit der ELN:
Am 4. Oktober haben die kolumbianische Regierung und die Guerillagruppe ELN (Nationale Befreiungsarmee) in Caracas ein Abkommen zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche unterzeichnet. Garantenstaaten sind dabei Venezuela, Kuba und Norwegen. Ebenso anwesend waren eine Verifizierungsmission der UNO sowie die katholische Kirche. Es wurde abgemacht, den Dialog, der 2019 nach einem Anschlag der ELN auf eine Polizeischule in Bogotá unterbrochen wurde, im November wieder aufzunehmen. Laut dem Hochkommissar für Frieden, Danilo Rueda, hat die ELN in den letzten Wochen mittels Freilassungen von Gefangenen und einer Deeskalation der Gewalt in ihren Einflussgebieten Verhandlungsbereitschaft gezeigt, was der Regierung Zuversicht für eine erfolgreiche Umsetzung ihrer Strategie für einen totalen Frieden gebe.
Waffenstillstand seitens bewaffneter Organisationen:
Anfangs Oktober teilte der Hochkommissar für den Frieden, Danilo Rueda, mit, dass sich über zehn bewaffnete Organisationen dem ‘totalen Frieden’ von Gustavo Petro anschliessen wollen und deshalb einen Waffenstillstand erklärt haben. Dazu gehören unter anderem die ‘Segunda Marquetalia’, die unter dem Kommando von Ex-FARC-Kommandant Iván Márquez steht. Ebenso die paramilitärische Gruppe ‘Clan del Golfo’. Laut Rueda werde die Möglichkeit eines bilateralen Waffenstillstandes geprüft. Die Regierung will die Dialoge mit den verschiedenen bewaffneten Gruppen zwar parallel, aber getrennt voneinander führen. Es soll keine Vermischung von Friedensgesprächen geben. Momentan wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der die nötigen Reformen des Justizsystems einleiten soll, um eine rechtliche Lösung für die kriminellen Organisationen zu finden. Dabei sollen den Mitgliedern der Gruppen Vorteile für eine wirksame Zusammenarbeit mit der Justiz geboten werden, wenn sie Informationen über Organisationen preisegeben, die ihre kriminellen Aktivitäten fortsetzen. Parallel dazu werden, wie oben erwähnt, Friedensgespräche mit der ELN in Caracas geführt.
https://www.radionacional.co/actualidad/ley-de-sometimiento-bandas-criminales-puntos-clave
Gleichstellungsministerium geschaffen:
Dem Kongress liegt ein bloss vierseitiger Gesetzesentwurf zur Schaffung des bereits im Wahlkampf angekündigten Gleichstellungsministerium vor. Die ambitionierten Hauptziele drehen sich um Lohngleichheit für Männer und Frauen, Rentenfähigkeit und Entlöhnung häuslicher Arbeit sowie die vermehrte Förderung der Frauen als Eigentümerinnen und Kreditnehmerinnen im Rahmen der Agrarreform, um das Unternehmertum zu fördern. Weiter sieht der Gesetzesentwurf ein nationales Pflegesystem vor, welches Betreuungsarbeit (unter anderem finanziell) anerkennen und umverteilen soll. Dabei geht es darum, die ungerechte geschlechtliche Arbeitsteilung zu überwinden. Bei der Präsentation des Entwurfs betonte Francia Márquez, welche das Ministerium leiten soll, dass Kolumbien eines der ungleichsten und ungerechtesten Länder der Welt ist und die Schaffung dieses Ministeriums ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum totalen Frieden ist, den die Regierung Petro anstrebt. Obwohl die Hauptziele des Ministeriums stark auf die Ungleichheit zwischen Mann und Frau fokussiert, wird es auch die wichtige Aufgabe haben, alle gefährdeten Bevölkerungsgruppen des Landes zu schützen. Dazu zählen so unterschiedliche Gruppen wie die LGBTIQ+-Bevölkerung, Kinder, Haushalte in Armut, Gewaltbetroffene, Menschen mit Behinderungen oder auch Wohnungslose und Migrant*innen.
III. Tipps und Hinweise
Genève, du pétrole à tout prix
Mo, 14. November 2022, Türöffnung 18:30 Uhr, Film ab 19 Uhr, Käfigturm, Marktgasse 67, 3011 Bern
Die Public Eye Regionalgruppe Bern organisiert einen Filmabend zum Erdölhandel von Gunvor und der damit einhergehenden Korruption. Der Co-Regisseur und Produzent Roland Chauville wird anwesend sein. Nach dem Film gibt es eine Diskussion zum Thema (auf Englisch).
Eintritt frei, Kollekte
https://www.askonline.ch/?p=8701
Soli Brunch und Jassturnier
So, 20. November 2022, Brunch ab 10 Uhr, Turnier 12:30-17:30 Uhr, Dachstock Villa Bernau, Seftigenstrasse 243, 3084 Wabern
Traditionsgemäss führt die ask! im November einen Brunch mit Jassturnier durch. Der Ertrag geht zugunsten der Friedens- und Menschenrechtsarbeit der ask!
Um Anmeldung bis am 17.11.2022 wird gebeten: region.bern@askonline.ch
Mit Preisen von Reportagen, Republik und vielen mehr!
https://www.askonline.ch/veranstaltungen/soli-brunch-und-jassturnier
Podiumsdiskussion von Comundo zum Thema ‘Jeunesse et engagement en politique’
Di, 22. November 2022, 18 Uhr, Comundo Büro, Rue des Alpes 44, 1700 Fribourg
Comundo lädt ein zur Podiumsdiskussion mit politisch aktiven Jugendlichen in der Schweiz und Kolumbien, um über deren Engagement zu sprechen.
Folgende Personen nehmen an der Diskussion teil:
Einführung: Daniel Eduardo Avellaneda
Moderation: Carla Ruta, ask!
Schweiz: Giulia Tognola, Anaëlle Kaufmann
Kolumbien: Kevin Josué Sánchez Navarro, Jesica Paola Rojas Hernández, Annina Schlatter
Die Veranstaltung findet auf Spanisch und Französisch statt. Anmeldung erwünscht.
https://www.askonline.ch/veranstaltungen/podiumsdiskussion
Dokumentarfilm mit Diskussion
Fr, 25. November 2022, 17:15-18:30 Uhr mit anschliessendem Apéro, Universität Neuchâtel, Av. Du 1-er Mars 26, Raum C54
Der Dokumentarfilm “Weaving Threads Across Borders” (“Tejiendo entre Fronteras”) zeigt den Kampf dreier kolumbianischer Frauen, die an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze leben, einem geopolitischen Konfliktgebiet, in dem Guerillas, Paramilitärs und die venezolanische Armee um die Kontrolle über das Gebiet kämpfen. Diese drei Geschichten stehen exemplarisch für die Situation vieler Binnenvertriebener und Zwangsmigranten. Trotz der allgegenwärtigen Gewalt, der Immobilitätspolitik der venezolanischen Regierung und der Abwesenheit des kolumbianischen Staates entwickeln diese Frauen Strategien, um mit ihren kleinen Unternehmen zu überleben und ein soziales Netz zwischen den beiden Seiten der Grenze zu knüpfen.
Anmeldung online.
https://www.askonline.ch/veranstaltungen/dokumentarfilm
Factsheet zu Steinkohlebergbau in Kolumbien und dessen Folgen in Deutschland
Steinkohleeinfuhren aus Kolumbien nach Deutschland haben seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine sprunghaft zugenommen: Bereits Ende Juni 2022 hatte Deutschland mehr kolumbianische Kohle als im gesamten Jahr 2021 importiert – über zwei Millionen Tonnen. Dabei sind die Folgekosten für Mensch, Umwelt und Klima in den Kohlerevieren enorm.
In einem neuen Factsheet zeigen Mitgliedsorganisationen der Deutschen Menschenrechtskoordination Kolumbien (MRKK) die vielschichtigen Negativauswirkungen des Kohleabbaus in Kolumbien auf und formulieren klare Forderungen an die deutsche Politik und die Energieunternehmen, die die Kohle ankaufen, um Menschenrechte, Umwelt und Klima besser zu schützen.
Download als pdf: https://www.kolko.net/wp-content/uploads/2022/10/MRKK_2022-10_factsheet_Kolumbien_Steinkohle_WEB.pdf
IV. Lesenswerte Artikel
- Wie das Weltentwicklungsprogramm der UNO (PNUD) mit Erdölfirmen im kolumbianischen Amazonas zusammenarbeitet: https://www.nytimes.com/es/2022/08/10/espanol/colombia-petroleras-amazonia.html
- Gewaltanstieg in Zeiten der Hoffnung: https://amerika21.de/2022/10/260501/massaker-hoffnung-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily
- Einschätzung des deutschen Bundestags zur Situation nach der Wahl Petro’s: https://www.bundestag.de/resource/blob/914498/e14c2563019b62775c9988d300fda469/Kolumbien-nach-der-Wahl-von-Gustavo-Petro-data.pdf
- Petro über die Politik der USA: https://amerika21.de/2022/10/260681/petro-kritisiert-usa-wegen-geldpolitik?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily
- Ranghohe Militärs anerkennen ihre Verantwortung vor der JEP: https://amerika21.de/2022/11/260705/kolumbien-falsos-positivos-militaers?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily
- Petro übergibt Land von Paramilitär Carlos Castaño an bäuerliche Kollektive: https://amerika21.de/2022/11/260852/kolumbien-land-v-paramilitaer-f-bauern?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily
Redaktion: Lisa Alvarado